18.9.2022, Kornspeicher der Dorfmühle Lehrberg
Am Abend – die Ereignisse des Tages Revue passieren lassen, dabei das Positive, Lob und Dank vorkehren, in dem auch Sorgen und Ängste am ehesten aufgehoben sind. Das Wesentliche heraus sieben und zur Ruhe kommen, bevor die Ohnmacht der Nacht kommt… Abend und Nacht sind zugleich Metaphern für das Bedrohliche, die Endlichkeit. Nicht nur Kinder brauchen für diesen Übergang in die Kontroll- und Wehrlosigkeit Rituale und Begleitung. Was hilft am Ende des Tages?
Transzendenten Halt im Glauben auf einen gütigen Gott bieten die jahrhundertealten christlichen Texte. Dichtkunst und deren Vertonungen aus der Zeit der Romantik schaffen eine Befriedung durch die Begegnung mit sinnlich wahrgenommener Natur, die oft zum Spiegel der menschlichen Sehnsüchte wird. Dabei fließen die Erlebnisse, Erfahrungen und Beziehungen der Kunstschaffenden in ihre Werke, die wiederum bei den Hörern in ihren Lebenszusammenhängen Bedeutung erlangen.
So beginnt das Konzertprogramm des Amadeus-Chores in der Dorfmühle – gegliedert durch Instrumentalstücke – mit einem Block geistlicher Kompositionen:
Das achtstimmige ‚Pater noster’ von Jakob Gallus (1550-1591) eröffnet einen Horizont des Vertrauens. Es ist ja die Vertonung des Gebetes Jesu, in zahllosen Sprachen rund um die Erde gesprochen, hier in lateinischer Sprache. Frauen- und Männerstimmen wechseln sich ab, fließen ineinander und münden in ein prächtiges ‚Amen‘ (d.i.: so sei es!). Gallus gilt als Meister der Renaissance, jener Zeit, in der die Mehrchörigkeit entwickelt wurde, das Spiel mit Klang und Raum, Kontrasten, getrennter Aufstellung und Klangfülle. Gallus verband in seinem reichhaltigen Werk niederländische und venezianische Einflüsse.
Es folgen zwei Psalmvertonungen: Von Albert Becker (1834-1899) ‚Lobe den Herrn’, opus 32.1. eine doppelchörige Motette, in der die Zuversicht auf Heilung und Neuanfang (Israels) in Lob eingebunden wird. Becker verbindet mit weiteren Komponisten des Abends (Nicolai, Hensel, Mendelssohn Bartholdy), dass er Mitglied der Singakademie Berlin war und er übernahm 1889 die Leitung des königlichen Domchores in Berlin, die vorher auch Felix Mendelssohn Bartholdy und Otto Nicolai innehatten.
Auch der Satz (für Soli und Chor) von Otto Nicolai (1810-1849) ‚Der 100. Psalm‘ (1848) lädt zum Jauchzen ein, wiederum gemäß der Erfahrung christlicher Tradition, dass es am Ende des Tages hilft, das Gute, Haltbare vor Augen zu rufen, in dem das Schwere aufgehoben ist. Nicolai, der früh der strengen Obhut seines Vaters entkam, sang als 20 jähriger die Bass Partie (Jesus) in der Matthäuspassion in Berlin, kurz nachdem Mendelssohn deren Wiederentdeckung durchgesetzt hatte. Nicolais bekanntestes Werk ist ‚Die lustigen Weiber von Windsor‘. Aufenthalte in Italien beeinflussten seine Kunstauffassung.
Musikalisch einen Kontrast bietet ‚Benedictio’ des Zeitgenossen Urmas Sisask (1960 in Estland geboren). Es ist eine beschwörende Vertonung der trinitarischen Segensformel . Sisask’s Kompositionen sind inspiriert von Gregorianik, Barock, baltischen Folktraditionen und nicht zuletzt seiner Faszination durch Astronomie. Er versteht sich auch als Umkodierer kosmischer Harmonie. In Benedictio (für 8 Chorstimmen) kombiniert er ein wechselndes Rhythmus-Fundament mit starken Akkordfolgen und einer fast ekstatischen Sopranmelodie, die strahlende Höhen einbindet.
Im zweiten Teil präsentiert der Amadeuschor Abendlieder der Romantik. Die ausgewählten Stücke thematisieren in romantischer Manier – also oft im Spiegel sinnlich ergreifender Naturphänomene – was am Abend, was in der Nacht Menschen bewegt. Die Dichter der Liedtexte und die Komponisten stehen in vielfältigen Bezügen. Lebensgeschichte hat Einfluss auf künstlerisches Schaffen. Nur exemplarisch sollen einige Züge hier erwähnt werden.
Johannes Brahms (1833-1897) vertonte (wahrscheinlich 1888) ‚Nachtwache I‘ und ‚Nachtwache II‘, aus opus 104. Die Texte schrieb Friedrich Rückert (1788-1866), der Dichter auch der Kindertotenlieder, der zugleich einer der Begründer der deutschen Orientalistik war. ‚Nachtwache I‘ erscheint den Wortbegriff eher von innen aufzufassen: Es beginnt mit ‚leise(n Töne(n)‘, zart, der Nachtwind wird zum Spiegel der Sehnsucht. Es endet fast resignativ. ‚Nachtwache II’ stellt die Perspektive eher von außen dar: Lautmalerisch wird das Horn des Nachtwächters intoniert und der Abendfrieden besungen.
Johannes Brahms war mit dem Ehepaar Schumann seit 1852 befreundet und mit Clara über den Tod von Robert Schumann bis zum Lebensende eng verbunden. 1888 warf er die gemeinsame Korrespondenz, wie mit Clara vereinbart, in den Rhein.
Befreundet mit Clara Schumann war auch Fanny Hensel (1805-1847), deren Werk mehr als 400 Titel umfasst, manche bisher unveröffentlicht. Von Hensel erklingt zunächst das erste der 1846 veröffentlichen Gartenliedern: In ‚Lockung’, opus 3.1, setzt sie das Gedicht von Joseph von Eichendorf (1788-1857) so kongenial um, dass man meint, die
nächtliche Landschaft und die Sehnsucht zu spüren.
Fanny Hensel musste nicht nur die unterschwelligen Diskriminierungen als Jüdin, obwohl mit 11 christlich getauft, ertragen – sie war die Enkelin des berühmten Gelehrten Moses Mendelssohn. Musikalisch gefördert, wurde sie dennoch von der Familie zurückgehalten, beruflich ihre Begabung als Komponistin, Pianistin und Dirigentin zu nutzen. So wurden ihre Kompositionen z.T. unter dem Namen des Bruders Felix veröffentlicht. Aber sie musizierte in den Sonntagskonzerten des Hauses Mendelssohn, die sie ab 1831 leitete und in denen auch Schumanns verkehrten. So entstand die Freundschaft mit Clara Schumann, die Fanny Hensel nach deren frühen Tod in einem Brief als ‚die
ausgezeichnetste Musikerin ihrer Zeit‘ bezeichnete.
Im Programm folgt Max Regers (1873-1916) ‚Nachtlied‘, op. 138,3, nach einem Text von Petrus Herbert (1533 -1571). Es ist ein gewaltig eindringliches und bekanntes Werk, komponiert 1914, im Jahr, in dem der 1. Weltkrieg entbrannte.
In ‚Waldesnacht‘, op. 62,3 nach einem Gedicht von Paul Heyse (1830-1914), wird die alle ‚irren Qualen‘ stillende Kraft in der Naturbegegnung von Johannes Brahms (etwa 1874) musikalisch umgesetzt. Paul Heyses Vater übrigens war lange Jahre Erzieher Felix Mendelssohns.
Der nächste und letzte a capella Block beginnt mit Robert Schumann (1810-1856): ‚Gute Nacht‘, op. 59.4 (mit Sopransolo; Text wieder von Friedrich Rückert). Hier klingt das Thema Freundschaft an. Freundschaft ist beinahe etwas Notwendiges, um Dunkel zu bestehen. 1846 als dieses Werk entstand, erlebte Schumann schon große
gesundheitliche Einschränkungen, obwohl er zugleich vieles schuf. Fast gleich alt, schon früh berühmter, war Felix Mendelssohn und mit diesem verband Schumann seit 1834 eine tiefe Freundschaft. Freundschaft beinhaltet bei Künstlern auch wahrhaftige Resonanz auf die jeweilige Kunst des anderen. Schumann wählte für seine Tochter Marie als Paten Mendelssohn aus. Er sammelte und bewahrte Äußerungen Mendelssohns auf, erst 2011
ist eine kommentierte Neuausgabe dazu erschienen.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) ist im Programm vertreten mit ‚Die Nachtigall‘, op. 59.4, nach einem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). 1821 besuchte Felix mit seinem musikalischen Förderer Carl Friedrich Zelter den berühmten Geheimrat. Goethe war verzaubert durch seinen ‚David’ und blieb Mendelssohn verbunden.- Gedicht und Liedsatz thematisieren mit leichtem Humor, so scheint es, die Kraft des Frühlings und der Erinnerung.
Stimmungsvoll setzte Carl Ecker (1813-1879) in ‚Stimmen der Nacht‘, op.4.3 ein Gedicht von Joseph von Eichendorff in Töne um. Bilder aus der Natur, von Eichendorff mit religiösem Vertrauen verbunden, verbinden Sehnsucht mit letzter Geborgenheit.
Von Fanny Hensel folgt ein zweites Gartenlied: ‚Abendlich schon rauscht der Wald‘ (opus 3.5), (Text ebenfalls: von Eichendorff). Robert Schumann schrieb in seiner Neuen Zeitschrift für Musik (Nummer 26):„… die Gartenlieder … zeichnen vor vielen dieser Gattung in Bezug auf künstlerische Auffassung aus, … ein anmuthiges, freundliches Element … Die harmonische Behandlung ist sehr gewählt und läßt die kunstsinnige Hand nicht verkennen. Ueber alle verbreitet sich ein zarter, poetischer Duft …‟
Mit Albert Beckers: ‚Bleibe, Abend will es werden’, opus 36.2 schließt sich der Bogen. Der Text von Franz Albrecht Muth (1839-1890) knüpft an die Ostergeschichte im Lukasevangelium an, die Bitte der Emmausjünger, denen erst nach und nach die Auferstehungsbotschaft aufging. Voll Kraft, Dramatik und Sanftheit werden in Beckers Motette die Fragen menschlicher Existenz ausgelotet und mit Hoffnung verbunden – hören Sie selbst und seien Sie herzlich willkommen.
Friederike Scharrer